Ruhe auf Rezept

In deutschen Altersheimen werden zuviele Psycho-pharmaka verabreicht.

ZEIT, 7, 2009 (Christina Gerth), Auszug

"... Wie die Untersuchungen der vergangenen Jahre zeigen, werden die Medi- kamente nach wie vor großzügig ausgeteilt: In 31 Altenpflegeheimen in München erhielt ein Drittel aller Bewohner Antipsychotika; in zwei Heimen in Frankfurt und Mainz standen Psychorphamaka gar für 63 Prozent der 167 Bewohner Tag für Tag parat. Und von den 2367 Bewohnern in 30 Hamburger Altenpflege-einrichtungen erhielten mehr als 50 Prozent wenigstens ein Psychopharmaka. "Da läßt sich getrost von Überversorgung sprechen", sagt Pflegewissenschaft- lerin und Studienleiterin Gabriele Meyer.


Es ist längst mehr als eine Verdacht: Neuroleptika werden allzu häufig vor allem wegen ihrer dämpfenden Wirkung eingesetzt. Ein Arzt, der ungenannt bleiben will, sagt: "Ich kenne keine Pflegeperson, die zugeben würde, eine Bewohner ru- higstellen zu wollen. Allerdings erlebe ich häufiger den Wunsch, auch von Ange- hörigen, Weglauftendenzen oder beständiges Rufen medikamentös einzustellen. Aber was ist das denn anderes als Ruhigstellen?" Auch als Artz komme man dann schnell in eine schwierige Situation: "Die einen unterstellen, man dröne die Pa- tienten nur zu, die anderen verstehen nicht, warum man nicht endlich genügend Medikamente gibt."

Doch Neuoleptika sind riskante Medikamente. Erst recht für alte Menschen mit Vorschädigungen am Gehirn. Früher als bei jungen Patienten und schon nach niedrigeneren Dosierungen treten bei ihnen die gefürchteten neuroleptika- typischen Bewegungsstörungen auf. Sie können sich als Parkisonsyndrom, quälende Bewegungsunruhe, unwillkürliche Bewegungen und in Formen von Verkrampfungen und Fehlhaltungen der Muskulatur zeigen. Auch mangelnde Bewegungsunfähigkeit, Apathie und Schluckstörungen könne eine Folge sein und den Krankheitsverlauf verschlechtern. Große Risiken bergen die Wech- selwirkungen zwischen den oft zahlreichen Medikamenten, die alte Menschen erhalten. Tatsächlich ist die Zahl der Krankenhausaufnahmen wegen uner- wünschter Medikamentennehbenwirkungen gerade bei dementen Heimbe- wohnern erheblich. "Zu hohe Dosen und zu schnelles Aufdosieren vor allem von Psychophamaka, ungeeignete Arzeimittel mangelhafte Therapieüberwachung sind die häufigsten Gründe dafür", sagt Petra Thürman, Expertin für klinische Pharmakologie.

Zwar gelten die neueren atypischen Neuroleptika als nebenwirkungsärmer, gar als "gut verträglich", doch in Wahrheit, mahnen etwa die US-Psychiater Daniel Katz und Ira Weintraub, seien deren Wirkungen nicht ausreichend erforscht. Vor vier Jahren warnte die amerikanische Arzneizulassungsbehörde FDA: Aty- pische Neuroleptika erhöhen die Sterblichkeit älterer dementer Menschen. Ver- gangenes Jahr erweiterte die FDA die Warnung: Auch konventionelle Neurolep- tika gelten nun als riskant. Es wurden vermehrt Schlaganfälle, Lungenentzün- dungen, plötzliche Herztode oder Stürze beobachtet. Schon bei Kurzzeitbe- handlungen, so das Ergebnis einer kanadischen Studie, sind schwere Zwischen- fälle, auch Krankenhausaufnahmen, häufiger. Ähnlich besorgniseregend ist das Ergebnis einer gerade erst im Fachblatt Lancet Neurology erschienenen Lang- zeitstudie.

Aber die Wirksamkeit der Antipsychotika ist fraglich. Allenfalls moderate Be- handlungseffekte scheinen nachweisbar, größeren Nutzen habe sie vermutlich nur bei schwerer Symptomatik. Paradoxerweise können sie sogar gerade jene Symptome auslösen, die sie eigentlich mildern sollen: psychotisches Erleben, aggressive Impulsdruchbrüche und Unruhe. Dennoch weird bei unzureichen- dem Behandlungserfolg häufig und viel zu schnell einfach die Dosis erhöht. Doch Psychopharmaka brauchen länger, bis sie verläßlich wirken...

Den Ausmaß der Verschreibungen steuern vor allem die Pflegekräfte. Sie sind es, die den Arzt rufen und nach Medikamenten fragen. Auf ihre Beobachtungen und Schilderungen ist der Mediziner angewiesen. Ungeschultes und überlastetes Personal ruft unter Umständen drei- bis viermal pro Woche in der Artzpraxis an. "Symptome werden oft übertrieben dargestellt. Dabei gehört vieles nun mal zum Krankheitsbild", sagt Perrar. "Wenn ein Bewohner jeden Abend den Tisch decken will", ergänzt Pflegewissenschaftler Detlef Rüsing, "weil er glaubt, sein vor Jahren verstorbener Sohn komme zu Besuch, leidet er zwar an Wahnvorstellungen, aber braucht noch lange keine Neuroleptika." Rüsing ist wie Perrar Co-Autor der vom Bundesgesundheitsministerium herausgegebenen Rahmenempfehlungen zum Umgang mit herausforderndem Verhalten bei Menschen mit Demenz in der stationären Altenhilfe.

Zum verantwortlichen Einsatz von Neuroleptia gehört, auf unerwünschte Wirkungen prompt zu reagieren. Doch Ungeschulte übersehen diese leicht. "Examinierte Altenpfleger sind durchaus in der Lage, die Nebenwirkungen zu erkennen", sagt Andrea Bergstermann, Leiterin des Dortmunder Fachseminars für Altenpflege. "Das ist Teil ihrer Ausbildung. Aber in den Heimen arbeiten immer mehr Hilfskräfte. Die wenigen examinierten Kräfte sind schnell damit überfordert, jeden einzelnen Bewohner genau im Blick zu halten."... (wird fortgesetzt)