Therapie im Takt - Nach einem Schlaganfall muß der Patient verlorene Fähigkeiten wieder erwerben. Mit Klavier und Gesang lassen sich schneller Erfolge erzielen als mit herkömm- lichen  Methoden (von Christoph Drösser, ZEIT, 37, 4. 9. 2008).

"(AUSZUG)... Glück war es, daß er Eckart Altenmüller von der Hochschule für Musik und Theater in Hannover kannte. Altenmüller ist Musikmediziner und Neurologe. Dessen Doktorantin Sabine Schneider(1) hatte gerade in der Zeitschrift Journal of Neurology die ersten Ergebnisse einer Studie zu einer neuartigen Schlaganfalltherapie veröffentlicht. In dieser und einer weiteren Veröffent- lichung konnten Altenmüller und Schneider zeigen: Eine Therapie mit dem Namen Musikunterstütztes Training (MUT) funktioniert. Und sie ist traditio- nellen Methoden überlegen...

(1) siehe: Objektivierung eines musikunterstützten Training (Link) motorischer Funktionen nach Schlaganfall/Music-supported training programm improves motor skills following stroke.

250.000 Menschen haben jedes Jahr in Deutschland einen Schlaganfall. Bei 90 Prozent von ihnen ist der Bewegungsapparat betroffen. Thomas Münte, der als Arzt an der Universität Magdeburtg den klinischen Teil der MUT-Studien betreute, schätzt, daß ein Drittel dieser Pa- tienten für die Musiktherapie infrage käme - immerhin etwa 70.000 Menschen. Bemerkenswert an den MUT-Studien ist, daß sie den Kriterien der evidenzbasierten Medizin genügen. Die Methode wurde an einer Gruppe von über 60 Patienten getestet, die Hälfte der Schlaganfallopfer erhielt im selben Umfang traditionelle Therapien. Die wichtigsten Bewegungsparameter verbeserten sich bei den Patienten, die MUT bekamen, im Verlauf von 15 Übungssitzungen deutlich. Und - peinlich für die Rehaszene - die traditionellen Physio- und Ergotherapien brachten praktisch keinen Fortschritt für die Kranken.

Das die Betroffenen so gut auf die musikalische Therapie ansprechen, hat mit der besonderen Funktion von Musik für das Gehirn zu tun, die in den letzten Jahren dank neuer bildgebender Verfahren mehr und mehr offenkundig wird. Anders als andere Fähigkeiten ist die Musikalität nicht in einer eng umrissenen Hirnregion angesiedelt. Musik spricht vielmehr neben dem Gehör auch den Bewegungsapparat an, das Gefühl und den Verstand.  Wenn wir musizieren oder auch nur Musik hören, spielen diese Teile des Gehirns wie in einem Konzert zusammen...

 Weil bereits die kurze Beschäftigung mit Musik offenbar meßbar das Gehirn "umbaut", kam Altenmüller auf die Idee, sie für die Therapie von Schlaganfall- patienten einzuzsetzen. Denn nach dem Anfall sind nicht die grundlegenden motorischen Fähigkeiten des Muskelapparates verschwunden - im Gegenteil, bei spastischen Lähmungen werden die Muskeln zu stark aktiviert und verkrampfen sich, weil über das Rückenmark eine unkontrollierte Informationsflut auf  sie einströmt. Diese Kontrolle wiederzugewinnen, die vorher von den geschädigten Hirnpatien ausgeübt wurde, ist das Ziel der Therapie. "99 Prozent der Kontrolle ist Hemmung der Information, und Feinmotorik ist die Unterbindung von Grobmotorik", sagt Altenmüller. Wie ein Kleinkind muß der Patient neue Hirnareale darauf trainieren, Schritt für Schritt die Herrschaft über seien Extremitäten zu gewinnen...

Ein weiteres eindrucksvolles Beispiel dafür, daß Musik die Plastizität des Gehirns nach einem Schlaganfall nachweislich fördern kann, hat Gottfried Schlaug von der Harvard Medical School in Boston geliefert. Er studiert aphasische Patienten - Menschen, die ihr Sprachvermögen verloren haben. Bei ihnen ist das sogenannte Broca-Areal in der linken Hirnhälfte geschädigt. Aphasiker können verstehen, was andere ihnen sagen, sie wissen auch, was sie antworten wollen, aber sie können nicht artikulieren. Schlaug zeigt gern das Video eines Mitsiebzigers, der 2003 einen Schlaganfall hatte. Er kann im Film nicht einmal seinen Namen sagen, und auf die Frage  nach dem Text von Happy Birthday kommt nur ein hilfloses Nuscheln. Als Schlaug ihn aber bittet, Happy Birthday zu singen, kommt ihm das Lied fehlerfrei über die Lippen, inclusive Text. Der Grund ist, daß wir den Text von Liedern in einem Hirnareal verarbeiten, das in der rechten Hirnhälfte angesiedelt ist. Offenbar gibt es also dort auch ein Sprachvermögen. Die Melodie Intonotion Therapy (abgekürzt MIT) soll bewirken, daß diese Hirnregion die linguistischen Fähigkeiten des zerstörten Broca-Areals übernimmt. Die Methode wurde schon 1973 von dem Arzt Martin Albert in Boston entwickelt, nun konnte die Wirksamkeit in einer kontrollierten Studie nachgewiesen werden.

In den ersten Therapiestunden setzt sich die Therapeutin dem Kranken gegenüber, ergreift seine linke Hand und bewegt sie rhytmisch, während sie mit ihm kurze Sätze auf einfache Zwei-Ton-Melodien singt, die sich an die natürliche Sprachmelodie anlehnen. "I am thirty", tief-tief-hoch-tief, singen die beiden - der erste Satz, den der Patient nach seinem Schlaganfall äußern kann. So wird über Wochen in vielen Einzelstunden ein Repertoire von Sätzen geübt. Nach und nach wird aus dem Singen wieder ein Sprechen, und nach 75 Stunden Training kann der Patient sich wieder in ganzen Sätzenmit seinem Gegenüber unterhalten - auch wenn die Sprache immer noch stockend kommt und ein wenig fremdartig klingt...