Eine neue Prothese beschäftigt arbeitslose Gehirnzellen

Phantomschmerzen entstehen durch funktionslose Neuronen nach einer Amputation - Das künstliche Gliedmaß liefert Signale (WELT, 8. September 2008, Silvia von der Weiden, Auszug)


Jena - Schwere Unfälle und weit fortgeschrittene Diabeteserkrankungen mit schweren Durchblutungsstörungen: Das sind die häufigsten Ursachen dafür, daß jedes Jahr Zehntausende Menschen eine Arm oder ein  Bein verlieren. Als wäre das nicht schlimm genug, quälen viele Patienten noch Jahre nach dem Verlust ihrer Gliedmaße krampfartige Phantomschmerzen.

 Gegen das Phänomen, daß so viele Patienten mit Amputationen quält, erproben Wissenschaftler der Universität Jena einen neuen Therapie- ansatz. Patienten, denen ein Arm oder die Hand amputiert wurde, erhalten eine Prothese, bei der Druckinformationen aus den künstlichen Fingern an das Gehirn gemeldet werden. Die mechanischen Reize laufen als Signale zunächst über eine elektrische und dan Nervenverbindung am Stumpft zum Gehirn. Dadurch werden jene Nervenzellen, welche die Sinnesempfindungen aus dem abgetrennten Gliedmaß einst verarbeitet haben, wieder beschäftigt. Denn sie sind durch die Amputation "arbeitslos" geworden. 

Hirnmagnetische Messungen, welche die Jenaer Forscher mithilfe der Magnetoenzephalografie bei handamputierten Patienten vorgenommen haben, offenbarten, die Ursache für die geisterhaften Empfindungen sind in Umstrukturierungsvorgängen in der Großhirnrinde zu suchen. Die funktionslos gewordenen Nervenzellen besetzen neue Aufgabenfelder, lösen dadurch aber die fremdartigen Empfindungen aus. Das verhindert die neuartige Prothese mit ihren Reizen. "Die ersten Untersuchungen mit einer Experimentalanordnung der Prothese sind sehr vielversprechend ausgefallen", sagt Wolfgang Miltner, Professor für Biologische und Klinische Psychologie an der Universität Jena...

Es stellte sich heraus, daß Areale im Gehirn die Körperregionen des Menschen in unterschiedlichem Maß abbilden und damit nicht die wahren anatomischen Verhältnisse widerspiegeln. Beispielsweise sind die Hirnareale, die Sinnesreize von Händen und Gesicht empfangen, besonders groß und grenzne unmittelbar aneinander.

Dabei zeigte sich auch: Die Lage der neuronalen Felder ist veränderbar. Mußte ein Körperteil amputiert werden, übernehmen die nunmehr unbe- schäftigten Nervenzellen im Gehirn schon nach kurzer Zeit die Aufgabe der Nachbarregionen mit. Nervenzellen (Neurone), die bislang unterschiedliche Körperregionen reflektierten, wachsen so zusammen. Für den Patienten hat die Fusion indes drastische Folgen: Eine Berührung im Gesicht vermittelt ihm das Gefühl, daß seine verlorene Hand schmerzt. Diesen Effekt kann die Therapie mit der "Reizprothese" zwar nicht vollständig verhindern, aber doch deutlich vermindern, so die Jenaer Wissenschaftler.

In dem Projekt mit Unterarmamputierten arbeiten sie nun gemeinsam mit dem Jenauer Unternehmen VisuMotion und der Sanitätsfirma Otto Bock aus Duderstadt an der Weiterentwicklung des Prototyps zusammen. "Anfang nächsten Jahres soll die neue Prothese zur Verfügung stehen", sagt Thomas Weiß, Professor am Institut für Psychologie der Univesität Jena.