Wir werden verrückt.

 DEMENZ. Kant sagte im Alter alberne Reime auf. Leonardo da Vinci schleppte  seine Staffelei wie einen Teddy hinter sich her. Was passiert, wenn bald Millionen wie die Kinder sind? Eine Ent- warnung. (von Dietmar Bittrich, Rheinischer Merkur, 36, 4. 9. 2008: "Altersglück. Vom Segen der Vergesslichkeit. Hoffmann & Campe, Hamburg 2008. 190 Seiten, 16,95 Euro.

"(Auszug)... Hätte Charlton Heston mehr Kreuzworträtsel lösen sollen? Wäre Georges Simenon mit Sudokus zu helfen gewesen? Betrieb Iris Murdoch zu wenig Gehirnjogging? Hätte Ronald Reagan nur mehr denken müssen, um etwas später in die Abend- dämmerung seines Lebens zu driften? Vermutlich nicht. Mit den Denkern und Geisteswissenschaftlern ist es auch nicht weit her. Immanuel Kant, der Prediger gehobener Selbstverantwortung, begann in späten Jahren, die Lieder seiner Kindheit in kleiner Runde vorzutragen. Gäste und Schüler applaudierten besorgt und versuchten, das Gespräch auf die Metaphysik zu lenken...

Es gibt noch keine Kulturgeschichte der Vergesslichkeit, doch die Philosophen wären zahlreich in ihr vertreten. Ausgerechnet diejenigen, die ihr Leben dem Gehirntraining gewidmet haben. Aus unserer Zeit käme Walter Jens darin vor. Der Altphilooge befände sich in bester Gesellschaft mit einigen seiner bewunderten Meister der Antike. Aus überlieferten Viten, voran denjenigen von Plutarch, haben Neurolgen herausgelesen, daß Korypäen wie Cato der Ältere in Rom oder Aristeides in Athen im Lebensabend keine Auskunft mehr darüber geben konnten, was sie geschaffen hatten, wie alt sie waren oder wie sie hießen. Wie der alte Epikur - "schick mir ein Stück Käse, damit ich einmal richtig essen kann" - waren sie vollkommen genügsam geworden.

Und wie steht es mit Diogenes von Sinope, jenem Enkelschüler des Sokrates, der mit einem einzigen Satz zu bleibendem Ruhm gelangte? Er muß um die siebzig gewesen sein, als er ihn äußerte. Als skurriler Hagestolzhätte er sich beizeiten im Pflegeheim befunden, wenn es damals eines gegeben hätte. So lebte er in einer aus Faßbrettern gezimmtern Bude am Strand. Als er Besuch von Herrn Alexander bekam, dem Vertreter des Staates, sozu- sagen dem Gutachter der Pflegeversicherung, und nach seinem dringlichsten Wunsch befragt wurde, nuschelte er zahnlos:" Geh mir aus der Sonne"...

Es sind die anderen, die darüber der Schrecken erfaßt, nicht die Narren und Schwärmer selbst."Die Erinnerung ist das einzige Gefängnis, aus dem man nicht befreit werden kann", notierte Schnitzler in Abwandlung eine Zitates von Jean Paul. Ein Irrtum. Die Befreiung findet statt. Für die von ihrer Erinnerung Erleichterten wird das Leben nach einer Anfangphase der Irritation immer einfacher. Weil das Erlernte und Erworbene rückwärts gelöscht wird, ist das Leben am Ende so einfach und kreatürlich wie das eines Kindes. 

Das beste wissenschaftliche Buch zum Thema, das Hauptwerk des holländischen Forschers Huub Buijssens, heißt deshalb treffend: "The Simplicity of Dementia". Der "Simplif"-Boom ist versik- kert; niemanc konnte den immer komplizierteren Regeln zur Vereinfachung folgen. Die kindlich Werdenden sind die Einzigen, die das Ideal verwirklichen. Für sich selbst - nicht für die ande- ren. Für die Partner, die Verwandten, die Aufsichtspersonen, die nun wie die Eltern eine Kindes notwendig sind, wird es anstrengend...  

Mein Vater pflegte meine Mutter , solange ihm Kraft dazu blieb. Der Hausarzt erzählte: "Wenn ich das erste Mal zu so einem Paar komme, und die beiden erwarten mich in der Tür, dann weiß ich: Der bleiche, sorgenvolle, erschöpfte Mensch ist der gesunde; die rorige, heitere, lächelnde Person daneben - das ist die, für die ich Medikamente aufschreiben soll."... 

Ich gehöre zu den geburtenstarken Jahrgängen. Wir werden geschlossen zu Speenagern. Gewöhnlich wird beklagt, die Gesellschaft sei schnellebig und lege nur Wert auf reibungsloses Funktionieren und Effizienz. Das geht vorbei. Mit uns - den Jahrgängen zwischen 1950 und 1965 - werden Gesellschaft und Geschäftsleben verlangsamen. Am Autoverkehr ist es schon zu beobachten. Betagte Fahrer, die sich fragen, wohin sie aufgebrochen sind, und die Farben der Ampel anstaunen. Sie sind nur der Trailer zu der lebenden Pleiten-Pech-und-Pannen- jhow, zu der Deutschland allmählich wird. Ich freue mich darauf, zu den Darstellern zu gehören und in die Fußstapfen großer Philosophen, Künstler und Gehirnjogger zu treten. Ich bin Dietmar. Bald werde ich derjenige werden, der ich war, bevor ich den Namen erlernte. Mal sehen, wer oder was das ist!"