Die Denktradition der christlichen Gesellschaftlehre

(1) Im Vergleich zu den Sozialauffassungen, die heute mit der christlichen Gesellschaftslehre um die Gestal-tung der gesellschaftlichen der gesellschaftlichen Ord-nung konkurrieren, weist das christliche Sozialdenken die längste geistesgeschichtliche Tradition auf. Anknüp-fend bei der Philosophie des griechischen Altertums hat sich christliches Sozialdenken in einer beispiellosen Fol- gerichtigkeit und bewundernswerter Geschlossenheit und Systematik über die Kirchenväter des christlichen Altertums, die großen Theologen des Mittelalters bis zu den sozialen Päpsten unserer Zeit entwickelt und entfal-tet. Dabei hat sie es nicht nötig gehabt, wesentliche Prin-zipien aufgeben zu müssen. Was sich im Laufe der Zeit geändert hat, waren nicht ihre Grundsätze, sondern die Anwendung dieser Grundsätze auf die veränderten und je neuen Gegebenheiten der sich wandelnden Gesell- schaft.

Im griechischen Altertum haben die beiden großen Phi-losophen Platon und Aristoteles in ihrem philosophi-schen Systemen sehr ausführlich gesellschaftliche Fra- gen mitbehandelt. Zwar wurdee die Gesellschaft noch nicht als eine eigenständiges Gebilde erkannt, dafür er- blickte man aber im Staat etwas Überindividuelles (Überpersönliches), das jeden Menschen einschließt. Das Recht wurde anerkannt als die Norm (Gesetz), die eine möglichst vollendete Form menschlicher Vergesell-schaftung gewährleisten soll.

Platon (428/27 bis 348/47 v. Chr.) entwickelte ein gran- dioses Bild des idealen Staates, das alle späteren sozialen Utopien (Zukunftsbilder) vorwegnahm. Aristoteles (384 bis 322/21), der Schüler Platons, entfaltete Ansätze einer sozialen Ethik und Tugendlehre mit dem zentralen Begriff des Gemeinwohles. Dabei versteht er unter Ge-meinwohl nicht nur die äußerlich rechtliche Organisa-tion der Gesellschaft, sondern einen Sinngehalt, der das Gewissen der Gesellschaftglieder bindet, also etwas echt Soziales. Diese Ansätze sozialer Lehren der klassischen Antike waren noch ganz eingebettet in die alles umfas-sende Philosophie.

Im christlichen Altertum und Mittelalter greift Augusti-nus (354 bis 430) die Lehre Platons vom idealen Staat auf. In seinem Werk De civitate Dei (Vom Gottesstaat) sieht er die Menschheitsgeschichte als Heilsgeschichte; als den verborgenen Kampf von Glaube und Unglaube bis zur entgültigen Trennung in das Reich Gottes und das Reich des Widersachers Christi. Auch bei ihm ist wirklich Sozialethik gegeben, da Augustinus im Staat einen allumfassenden, gemeinschaftsformenden Ordnungsgedanken sieht.

Der Einfluß des Augustinus herrscht bis ins hohe Mittel- alter, wurde dann aber zurückgedrängt von Thomas von Aquin (um 1225 bis 1274), der seinerseits bei Aristoteles anknüpfte. Er war der bedeutendste Philosoph und The- ologe des Hochmittelalters, der Doctor communis (der allgemeine Lehrer) und Doctor angelicus (der engelsglei- che Lehrer). Seine Sozialphilosophie erweitert die Ge-meinwohllehre des Aristoteles zum gesellschaftsformen-den Inhalt des vollkommensten und umfassendsten So- zialgebildes, welches er im Staat erblickte. Der einzelne Mensch kann seine allseitige Entfaltung, vor allem aber seine ewige Glückseligkeit, nur dann  erreichen, wenn er sich diesem Gemeinwohl ein- und unterordnet. Dabei er- blickt er in der rechtmäßigen Autorität die entscheiden- de Instanz, welche das Gesellschaftsganze im Hinblick auf das Gemeinwohl ordnet und überwacht. Zwar war auch die Soziallehre des hl. Thomas Bestandteil seiner Philosophie, die ihrerseits ganz im Dienste der Theologie stand. ("Die Philosophie ist die Magd der Theologie") Sie hat aber der Entfaltung einer eigenständigen christli- chen Gesellschaftslehre unschätzbare Anregungen und Impulse gegeben.

Der eigentliche Begründer der christlichen Gesell-schaftslehre als sysematische und selbständige Wissen- schaft ist Papst Leo XIII. (1810 bis 1903). In seinen großen sozialen Rundschreiben schlug er die Brücke von den sozialen Ideen der christlichen Frühzeit und des Mit- telalters zu den gewaltigen sozialen Problemen des an- brechenden Industriezeitalters. Papst Leo XIII. hat die Tradition christlichen Sozialdenkens aus der Umklam-merung des gottnegíerenden Zeitgeistes in Aufklärung und Rationalismus (Überbetonung der Vernunft) befreit. Vor allem hat er der christlichen Gesellschaftslehre das Element der Sozialkritik gegeben. Er hat wie kaum ein anderer die liberal-kapitalistische industrialisierte Gesell- schaft analysiert und kritisiert. Seine besonderes Ver-dienst war die Wiederbelebung der Tradition christlichen Naturrechtsdenkens. (Heinz Budde, Soziallehre, Paulus-Verlag, Recklinghausen, 1964, S. 13/14) Link: CDA Rhein-Lahn