Fjodor Dostojewskij zum 125. Todestag - von Klaus Harms, Evangelísche Sonn-tagszeitung, 15. Januar 2006 - Er war der große Dichter, Philosoph und Laien-theologe. Unbestechlich blickte er in die Seele des Menschen. Schon lange vor Sigmund Freud erkannte er die Leidenschaften und Verstrickungen, aus denen es für den überzeugten Christen Dostojewskij nur eine Zuflucht geben konnte: Christus. Er blickte in die Abgründe der Seele und schmeckte die Bitterkeit des Vergänglichen wie kaum ein zweiter Literat.

Der Durchreisende

Wer sich in die Romane, die dramatischen Tragödien, von Fjodor Michailwitsch Dostojewskij versenkt, findet sich dort fast immer wieder: als Mensch im Widerspruch, in Schuld verstrickt, der Erlösung und Versöhnung be-dürftig, eine Klagender und ein Hoffender.                       Die große russische Seele erlebte die Abgründe, schaute dem Tod in die Augen, als er wegen revolutionärer Ten-denzen zur Erschießung verurteilt auf dem Richtplatz vor dem Peleton des zaristischen Militärs stand. Er wurde zu Zuchthaus in Sibirien begnadigt einem Ort des Schrek-kens, von dem "Die Aufzeichnungen aus einem Toten-hause" künden. Er wurde zum Miliärdienst gezwungen.

Der Vergebung durch den Mann am Kreuz gewiß, ging er durch Todesangst und Gefangenenschaft. Doch er verstrickte sich selbst in Schuld. Unter anderem stürzte er sich, getrieben von der Spielsucht in finanzielle Schul-den - auch in der Spielbank von Wiesbaden. All das ist nachzulesen in dem autobiografischen Roman "Der Spieler". Dostojewskijs Dichtungen sind immer auch Bekenntnisse eigenen Versagens. Die Gestalten in Dosto-jewskijs Werken sind existentiell zu begreifen.                   Raskonikow ermordet in "Schuld und Sühne" die gei-zige Geldverleiherin und deren Nichte. Der wollte den Raub den Armen zukommen lassen. Revolution mit allen Mitteln? Das kann es nicht sein, meinte Dostojewskij. Raskolnikow begegnet der jungen Sonja, die sich für die Familie prostituieren muß. Sie lesen beide die Geschichte von der Auferstehung des Lazarus im Johannesevangeli-um, und erfahren das Geheimnis der Vergebung. Sie wird Menschen geschenkt in der Demut, der "allerfürch-terlichsten Kraft auf Erden". Der Mörder steht zu seiner Schuld und büßt später im Gefängnis.                               Die Armen, die Entrechteten und Gedemütigten wie den verspotteten Fürst Myschkin ("Der Idiot") stellt Dosto-jewskij den Pharisäern seiner Zeit, den Stolzen und Arro-ganten und den selbstherrlichen Rationalisten und Indi-vidualisten vor Augen. Die Christen und ihre Kirchen werden nicht verschont. Das wohl Ergreifendste und Er-schütternste Werk ist die Erzählung vom "Großinquisi-tator" in den "Brüdern Karamasow". Es ist ein Parabel auf den wiedergekommenen Jesus in den Tagen der Ket-zerverbrennungen, den Autodafés im Sevilla des 15. Jahrhunderts. Hier zielt Dostojewskij auf die Jesusver-gessenheit der Kirche. Der finstere Kleriker, Richter über Leben und Tod, steht vor dem schweigenden Wiederge-kommenen im Kerker. In endlosen Salbadern dringt er auf Christus ein, der nicht verstehen will, daß er irrte, wenn er behauptete, dem Menschen Freiheit gebracht zu haben. Begreift der Wiedergekommene das nicht? Die Freiheit des Herzens konkurriert mit der Freiheit des Übermenschen. Wehrlos wie einst vor Pilatus ist Christus dem Vertreter des Fundamentalismus ausgeliefert und hat schweigend Mitleid mit ihm, als wolle er sagen: "Va-ter, vergib ihm, denn er weiß nicht, was er redet und tut."                                                                                          In Dostojewskijs epischen Romanen gibt es keine roman-tischen Naturschilderungen. Die Landschaften sind die der Seele des Menschen. Er ist auch ein Mystiker, dessen große Liebe Rußland war, seine Erde, seine Mutter Got-tes,, mit der er in einer Einheit zusammenlebt.                   In den Städten wohnt er bei Trinkern und ehrgeizigen Intriganten, schwindsüchtigen Studenten. Dostojewskij rang förmlich mit Dämonen und deren Ideen, die eines Tages die Welt ins Verderben treiben: Ideen, die auszie-hen, das Gute zu suchen und das Böse vollbringen; faustische Naturen allzumal.                                              Selbst der sozialen Revolution durchaus aufgeschlossen, ahnte er dennoch auch den kommenden Totalitarismus in der Gestalt des Stalinismus. Schrill klingt die War-nung aus den "Brüder Karamasow", Nietzsches Prokla-mation der Ermordung Gottes aufnehmend: "Wenn Gott tot ist, ist alles erlaubt."                                                         1821 in armen Verhältnissen in Moskau geboren, litt Dostojewskij unter Epilepsie. Er starb am 9. Februar vor 125 Jahren in St. Petersburg. Heinrich Böll interpretier-te den großen "Radikaltheologen" aus Rußland: "Er lieferte sich und seine Gestalten aus. Er war ständig wie auf der Durchreise und wie ein Durchreisender nahm er wahr: Augenblick und Ewigkeit, Leben und Tod, die Bitterkeit des Vergänglichen."