_________________________________________

Wladimir Solowjow

16. 1. 1853 Moskau - 12. 8. 1900 Uskoje bei Moskau. Begründer der neurus-sischen Religionsphilosophie und einer der bedeutendsten Denker der christli-chen Geistesgeschichte. Einfluß auf Berdajajew, Trubezkoj, Schestow, Floren-skij, Bulgakow, Iljin, Frank und Stepun. Eng mit Dostojewskij befreundet.         ______________________________________________________________________

IMMANU-EL

                         Ins Zeitendunkel ist die Nacht entschwunden,            

                          In der ein Stern erstrahlte - klar und hell,                        

In der sich Erd' und Himmel neu verbunden, 

                              In der geboren ward Immanu-El.                                       

                       Zwar vieles könnte heut' nicht mehr geschehen:        

Daß Hirten hörn der Engel Lobgesang,                          

Daß heil'ge Könige zum Himmel sehen                               

Und folgen dann des neuen Sternes Gang.                      

Doch in der Flucht der Zeit bleibt unverloren                  

Das Ewige, das uns erschien in jener Nacht.                 

Von neuem wird das WORT in dir geboren,                      

Das einst im Stalle ward zur Welt gebracht.                  

Ja! Gott mit uns - nicht dort, in Himmelszelten               

Und nicht in Sturmeswehn, in Feuer nicht und Streit,      

Und nicht in Fernen unerforschter Welten,                      

Und nicht im Nebel der Vergangenheit.                           

Nein: hier und jetzt: im eitlen Weltgetriebe,                   

Im trüben Lebensfluß, im Alltagstrott                             

Tönt uns die Botschaft von der ew'gen Liebe:                 

Besiegt sind Not und Tod - mit uns ist Gott. (1)

(1892)

                                 

Liebste, kannst Du denn nicht sehen,                           

Daß, was immer wir gewahren,          

                             Nur der Abglanz, nur der Schatten,                             Eines ewig Unsichtbaren?

Liebste, kannst du denn nicht hören?       

                     Daß des Lebens Lärmgedränge                                  

 Nichts als das verzerrte Echo                   

                      Ewiger Zusammenklänge?

Liebste, kannst du denn nicht spüren?                     

     Daß in allem Weltgetriebe      

 Wirklich seiend nur der Herzen                                     

Stummer Wechselgruß der Liebe?      

        (2) (1892)

    

Am Grab von Wladimir Solojow im Neu-Jungfrauenkloster in Moskau.

_________________________________________

Ich und Du   ~   Martin Buber

Verl. Lambert Schneider, Heidelberg, 11. Auflage, 1983

______________________________________________________________

Ich betrachte einen Baum.

Ich kann ihn als Bild aufnehmen: starrender Pfeiler im Anprall des Lichts, oder das spritzende Gegrün von der Sanftmut des blauen Grundsilbers durchflossen.

Ich kann ihn als Bewegung verspüren: das flutende Geäder am haftenden und strebenden Kern, Saugen der Wurzeln, Atmen der Blätter, unendlicher Verkehr mit Erde und Luft - und das dunkle Wachsen selber.

Ich kann ihn einer Gattung einreihen und als Exemplar betrachten, auf Bau und Lebensweise.

Ich kann seine Diesmaligkeit und Geformtheit so hart überwinden, daß ich ihn nur noch als Ausdruck des Gesetzes erkenne - der Gesetze, nach denen ein stetes Gegeneinander von Kräften sich stetig schlichtet, oder der Gesetze nach denen sich Stoffe mischen und entmi-schen.

Ich kann ihn zur Zahl, zum reinen Zahlenverhältnis ver-flüchtigen und verewigen.

In all dem bleibt der Baum mein Gegenstand und hat seinen Platz und seine Frist, seine Art und Beschaffen- heit.

Es kann aber auch geschehen, aus Willen und Gnade in einem, daß ich, den Baum betrachtend, in die Beziehung zu ihm eingefaßt werde, und nun ist er kein Es mehr. Die Macht der Ausschließlichkeit hat mich ergriffen. Dazu tut nicht not, daß ich auf irgendeine der Weisen meiner Betrachtung verzichte. Es gibt nichts, wovon ich absehen müßte, um zu sehen, und kein Wissen, das ich zu verges-sen hätte. Vielmehr ist alles, Bild und Bewegung, Gat-tung und Exemplar, Gesetz und Zahl, mit darin, unun-terscheidbar vereinigt.     Alles, was dem Baum zugehört, ist mit darin, seine Form und seine Mechanik, seine Far-ben und seine Chemie, seine Unterredung mit den Gestir-nen, und alles in einer Ganzheit.    Kein Eindruck ist der Baum, kein Spiel meiner Vorstellung, kein Stimmungs- wert, sondern er leibt mir gegenüber und hat mit mir zu schaffen, wie ich mit ihm - nur anders.  

Man suche den Sinn der Beziehung nicht zu entkräften: Beziehung ist Gegenseitigkeit.

So hätte er denn ein Bewußtsein, der Baum, dem unsern ähnlich? Ich erfahre es nicht. Aber wollt ihr wieder, weil es euch an euch geglückt scheint, das Unzertrennbare zerlegen? Mit begegnet keine Seele des Baums und keine Dryade, sondern er selber.                                       (3)